Der französische Philosoph Paul Ricœur (1913-2005) ist einer der wichtigsten Vertreter der Hermeneutik. Seine unermüdliche Neugier und Gesprächsbereitschaft schlagen sich in einem breitgefächerten Werk nieder, das Psychoanalyse, Geschichtswissenschaft, Literaturtheorie und Theologie befruchtet hat und immer noch neu anregt. Auch für die Grundlageforschung zur Versöhnung sind die Überlegungen Ricœurs von großer Bedeutung. Ricœurs hermeneutische Anthropologie bietet mit einer Theorie der narrativen Identität und Gedächtnisphilosophie wichtige Bausteine für eine hermeneutische Grundlegung der Versöhnungsforschung. Deshalb findet seit einigen Jahren im Rahmen des Jena Center for Reconciliation Studies eine intensive Auseinandersetzung mit dem Werk Ricœurs statt.
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Lebensweg
1913 wurde Ricœur im südfranzösischen Valence geboren. Nachdem er früh seine Eltern verlor, wuchs er bei seinen Großeltern in Rennes auf, wo er das Lycée besuchte, bevor er für das Philosophiestudium an der Sorbonne nach Paris ging. Nach der Agrégation (der Zulassung für das Lehramt an Gymnasien und Universitäten) arbeitete er ab 1935 als Lehrer am Lycée und nahm an den "Freitagen" des christlichen Existentialisten und Dramatikers Gabriel Marcel teil. 1939 wird er in die Armee eingezogen und gerät 1940 in Kriegsgefangenschaft in Vorpommern. Im Gefangenenlager übersetzt er die „Ideen I“ von Husserl und nimmt die Arbeit an einer breit angelegten „Philosophie des Willens“ auf. Ein handschriftlicher Entwurf aus dieser Zeit wird heute im Archiv des Fonds Ricœur verwahrt. Den ersten Band, „Le volontaire et l’involontaire“ (dt: „Das Willentliche und das Unwillentliche“), reicht er 1950 als Thèse principale für das Doctorat d’État ein.
Nach Kriegsende unterrrichtet Ricœur zunächst am Collège cévenol in Le Chambon-sur-Lignon, einem Dorf, dessen mehrheitlich protestantische Bevölkerung während der deutschen Besatzung viele jüdische Kinder versteckt hatte. 1948 wird Ricœur als Philosophieprofessor nach Straßburg berufen, 1957 kehrt er als Professor an die Sorbonne zurück. 1965 nimmt Ricoeur an der Gründung der Universität Nanterre teil, an die er auch Emmanuel Levinas berufen lässt. Ohne diese Stelle aufzugeben, unterrichtet er ab 1970 als Nachfolger des berühmten deutsch-amerikanischen Theologen Paul Tillich an der Universität Chicago. 1986 wird er nach Edinburgh eingeladen, um die „Gifford Lectures“ zu halten, die er im selben Jahr in München als „Schelling-Vorlesungen“ wiederholt. Aus diesem Vortragszyklus erwächst bis 1990 sein philosophisches Hauptwerk, „Soi-même comme un autre“ (dt : „Das Selbst als ein Anderer“, München, Fink, 2005).
Mit der Veröffentlichung von „Temps et récit“ (dt : „Zeit und Erzählung“) zwischen 1983 und 1985 wächst Ricoeurs nationale und internationale Anerkennung; ihm werden zahlreiche Preise und Titel verliehen. Er stirbt am 20. Mai 2005 in seinem Haus in Châtenay-Malabris bei Paris.
Zeitlebens war Ricœur ein engagierter Christ, der Problemen der Religion und der biblischen Hermeneutik wichtige philosophische Arbeiten widmete. Dabei achtete er zunehmend strenger darauf, seine philosophischen Überlegungen von jeder Form biblischen und gläubigen Einsprengseln freizuhalten sowie die Diskurse nicht zu vermengen. Politisch engagierte er sich früh als kritischer Kommentator wie auch als Berater und Ideengeber im Sinne der „zweiten Linken“ von Pierre Mendès-France, und später seines Freundes Michel Rocard (1930-2016; Premierminister von 1988-1991). Über 50 Jahren hinweg spielte er eine maßgebliche Rolle in der Redaktion der Zeitschrift „Esprit“. Heute sind seine Arbeitsbibliothek und sein Archiv im Fonds Ricœur am Institut Protestant de Théologie in Paris für die Forschung zugänglich.
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Symbolhermeneutik
Ab den späten 1950er Jahren entwickelt Ricœur seine Hermeneutik, zuerst im Rahmen seiner Philosophie des Willens. Dort wird er auf die Kluft aufmerksam, die zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit des Bösen besteht. Als fehlbar ist der Mensch immer in Gefahr, Böses zu tun - aber aus der Fehlbarkeit des Menschen lässt sich nur die Möglichkeit des Bösen ableiten, nicht dessen Wirklichkeit; vom fehlbaren Menschen kann der schuldige Mensch nicht deduziert werden. Das Wirklichwerden des Bösen ist und bleibt ein Mysterium. Der Ursprung des Bösen lässt sich deshalb nur symbolisch in mythischer Form darstellen. Dieser Mythosbegriff Ricœurs ist von M. Eliade beeinflusst, der später in Chicago sein Kollege und Freund wird.
Auch wenn der Mensch nicht erklären kann, wie das Böse jemals wirklich wird, muss er anerkennen, dass er Böses getan hat – auch, wenn er nicht erklären kann, wieso er es getan hat, und selbst dann, wenn er wahrhaftig keine Absicht hatte, Böses zu tun. Mythologisch gesprochen tut das Böse um des Bösen willen nur der Teufel. Ricœur aber interessiert sich für den fehlbaren Menschen. Ihm wird dabei bewusst, dass das Problem der Wirklichkeit des Bösen auf eine Grundstruktur des menschlichen Daseins hinweist. Nicht nur die böse Tat erscheint demjenigen, der sie getan hat, als etwas, in dem er sich selbst nur verfremdet erkennt. Das gleiche gilt für alle Werke und Handlungen des Menschen, und somit für seine Identität. Nur durch kulturell tradierte Symbole kann er sich indirekt erkennen und sein Tun deuten. Entsprechend versteht sich Ricœurs Hermeneutik anfangs vor allem als Symbolhermeneutik. Diese Phase findet ihren Höhepunkt und Abschluss zugleich in einer systematisch angelegten Deutung Freuds, die Ricœur 1965 unter dem an Aristoteles angelehnten Titel „De l’interprétation“ veröffentlicht (dt.: „Die Interpretation. Ein Versuch über Freud“, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1969).
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Vom Symbol zur Metapher
Parallel widmet sich Ricœur intensiv dem Studium der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie, die 1962-1967 Gegenstand einer Reihe von Vorlesungen werden. In diesem Zusammenhang wird ihm die Unzulänglichkeit des Symbolbegriffs bewusst. Spätestens in der Vorlesung von 1964/65 formt er deswegen den Symbolbegriff in eine semantische Theorie der Metapher um, für die er wesentliche Impulse aus Jakobsons und Greimas’ Arbeiten zur strukturalistischen Semantik aufgreift. Mit dem von Jakobson geprägten Begriff des metaphorischen Prozesses findet Ricœur im Phänomen der Metapher als semantische Innovation die Matrix einer Poetik, d.h. einer Theorie des literarischen Textes. Damit verlagert sich das Paradigma von Ricœurs Hermeneutik vom Symbolbegriff zu einem sprach- und metaphertheoretisch fundierten Textbegriff. Erst als Texthermeneutik erreicht Ricœurs Hermeneutik ihre klassische Gestalt. Diese entfaltet er in drei systematischen Werken: „La métaphore vive“ (1975; dt. Teilübersetzung: „Die lebendige Metapher“, München, Fink, 1986), „Temps et récit“ (3 Bde 1983-1985; dt. „Zeit und Erzählung“, München, Fink, 1987-1991) und „Soi-même comme un autre“ (1990; dt. „Das Selbst als ein Anderer“) sowie in einer Reihe von Aufsätzen, die er 1986 unter dem Titel „Du texte à l’action. Essais d’herméneutique 2“ (nicht in deutscher Übersetzung erschienen) zusammenstellt.
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Texthermeneutik
Ricœurs Textbegriff ist maßgeblich durch die strukturalistische und semiotische Texttheorie geprägt. Ein Text ist ein sprachliches Gebilde, dessen Aufbau regelgeleitet ist. Diese Regeln konstituieren die Tiefenstrukturen von Texten und definieren, zu welcher Gattung ein bestimmter Text gehört: ein Gedicht, eine Erzählung, ein Roman, eine Tragödie, ein Essay, usw. Solche Regeln liegen sowohl der Produktion als auch der Deutung von Texten zugrunde. Mit diesem sowohl präzisen als auch reichen Textbegriff kann Ricœur die unter Berufung auf Gadamer und Dilthey stereotyp behaupteten Entgegensetzungen von Wahrheit und Methode sowie von Verstehen und Erklären überwinden. Ricœurs Formel lautet: „Mehr erklären, um besser zu verstehen“ („Expliquer plus pour mieux comprendre“). Ein Text entfaltet als geschlossenes Sprachgebilde eine eigene Welt, die „Welt des Textes“. Diese Welt zu rekonstruieren, ist die Aufgabe der Texterklärung. Gerade in dieser Methode findet Ricœur den Weg zum Verständnis, also zur Wahrheit des Textes als Kunstwerkes. Einen Text verstehen bedeutet dann, die Welt des Textes mit der Welt des Lesers in einen Zusammenhang zu bringen, so dass dieser sich fragen kann, ob und inwiefern er sich die Sicht der Welt, die der Text bezeugt, zu eigen machen kann, also die Wahrheit des Textes anerkennt.
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Philosophische Hermeneutik
Damit gelingt es Ricœur, die Fragen der philosophischen Hermeneutik als Daseinshermeneutik systematisch auf die Fragen der Texthermeneutik als Theorie der Textinterpretation zurückzubeziehen und auf diese Weise die Daseinshermeneutik als Hermeneutik des Selbst methodisch kontrolliert neu durchzuführen. „Soi-même comme un autre“ widmet sich dem als Hauptaufgabe. Das Selbst ist hier wesentlich eines, das handelt und leidet. Insofern ist die Frage nach dem Selbst von einem vertieften Handlungsverständnis untrennbar, zu dem Ricœur in einer erzähltheoretisch fundierten Handlungstheorie findet. Er zeigt, wie der Text als Paradigma für die Handlung dienen kann und wie erst in der Erzählung die komplexe Struktur der Handlung angemessen aufgeschlüsselt werden kann. In diesem Zusammenhang spielen Greimas’ Semiotik und sein „Aktantenmodell“ („schéma actantiel“) eine grundlegende Rolle.
Auch in der Antwort, die Ricœur auf die Frage nach der personalen Identität gibt, zeigt sich die begründende Rolle der Erzähltheorie. Ricœur versteht die Identität des Selbst als narrative Identität. Dank seines im Gespräch mit der Narratologie ausgearbeiteten Verständnisses der Erzählung vermag er aber ein sehr differenziertes Verständnis der narrativen Identität zu formulieren, wodurch seine Auffassung sich von den Theorieansätzen von Ch. Taylor und A. MacIntyre deutlich unterscheidet.
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Text und Geschichte
Im Anschluss an die analytische Geschichtsphilosophie (A. Danto, W. B. Gallie, L. Mink, usw.) zeigt Ricœur, dass die Logik der Erzählung eine Alternative zum nomologischen Modell der Erklärung darstellt und der historischen Darstellung besser gerecht wird. Die Erzählung ist aber selber eine Spielart der Erklärung. Mit dieser These bestreitet Ricœur gerade am Beispiel der Geschichte, dass die Erklärung ausschliesslich nach dem nomologischen Modell verstanden werden dürfte. Es gibt verschiedenen Formen von Erklärung.
Die Geschichte war es aber, deren wissenschaftstheoretische Eigenart Dilthey dazu bewegte, das „Verstehen“ exklusiv für die Geisteswissenschaften zu reklamieren und die Naturwissenschaft auf die „Erklärung“ zu verweisen. Dabei war ihm das „Verstehen“ ursprünglicher als das „Erklären“, da es auf der fundamentalen Identität zwischen Subjekt und Objekt des Verstehens beruhte, während die Natur, weil sie kein Geistiges ist, sich dem Verständnis entzieht und nur von aussen erklärt werden kann. Mit der Binnendifferenzierung des Erklärungsbegriffs verabschiedet Ricœur diese für die klassische Hermeneutik grundlegende wissenschaftstheoretische Auffassung. Weil sie erzählend erklärt, erschliesst die Geschichtswissenschaft die von ihr dargestellten Ereignissen dem Verständnis. Damit erweist sich Ricœurs Modell des Textes als fähig, für eine Neuformulierung der Hermeneutik eine einheitliche Grundlage von der Hermeneutik des Selbst bis zur Wissenschaftstheorie der Geschichte bereitzustellen, die an den heutigen Debatten in den Sprachwissenschaften, in der Literaturtheorie, aber auch in der analytisch orientierten Philosophie Anschluss findet.