Versöhnung ist einer der großen Hoffnungsbegriffe der 1990er Jahre. Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Ende des Kalten Krieges trat die Möglichkeit von Versöhnung in das Bewusstsein vieler Menschen und bestimmte zumindest für kürzere Zeit das sozialpolitische Handeln von Südafrika bis Nordirland, von Japan bis nach Chile. Auch Paul Ricœur war von diesen Entwicklungen bewegt und reagierte auf sie in seinen Schriften. Dabei stand für ihn die europäische Einigung zwischen West und Ost im Vordergrund. In den 1990er und frühen 2000er Jahren unternahm er Vortragsreisen nach Russland und beteiligte sich in Sofia aktiv an mehreren Konferenzen zum gesellschaftlichen Wandel.
Nicht mehr richtig wahrnehmen konnte Ricœur die von Nordamerika ausgehende Etablierung der Versöhnungsforschung in den späten 1990er Jahren. Diese definiert Versöhnung als einen Prozess zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Staaten, Organisationen, Gruppen und Individuen nach schwerwiegenden Ereignissen wie Krieg, Bürgerkrieg, Völkermord, Diktatur, Kolonialismus, Sklaverei, Apartheid oder vergleichbar gravierenden Unrechtserfahrungen. Dieser Prozess soll eine besondere Qualität von Frieden, nämlich: versöhnten, inklusiven und vertrauensvollen Frieden stiften. Folglich verlangt nachhaltige Versöhnung neben symbolischen Handlungen den langfristigen und ausdauernden Einsatz vieler Akteure über mehrere Generationen hinweg.
Da Versöhnung ein vieldimensionaler Prozess ist, kann sie nur in transdisziplinärer Zusammenarbeit zahlreicher Wissenschaften erfasst werden. Neben vielfältige empirische Arbeit gilt es, deren begrifflich-philosophische Grundlagen zu verfeinern. In dieser Hinsicht erweist sich Ricœurs späte Hermeneutik des Selbst als hilfreich. Mit seinen Überlegungen zur Übersetzung als sprachlicher Gastfreundschaft, zur Revisionsfähigkeit der narrativen Identität und zum Gedächtnisaustausch, sowie zu den Möglichkeiten und Schwierigkeiten von Vergebung hat Ricœur in diesem Rahmen grundlegende Paradigmen für die hermeneutische Fundierung einer solchen Versöhnungsforschung exponiert (vgl. Welches neues Ethos für Europa?, in: P. Koslowski [Hg.], Europa imaginieren, Berlin, Springer, 1992, S. 108-120). Ricœurs letztes Buch, Chemins de la reconnaissance (2004; dt: Wege der Anerkennung) lädt dazu ein, diese drei Paradigmen als Weisen der Anerkennung zu deuten.
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Übersetzung
Übersetzen ist vielmehr als ein bloßes Übertragen von Informationen aus einer Sprache in eine andere. Der Übersetzer muss in der Sprache, aus der er übersetzt, und in der Kultur, die diese Sprache transportiert, so zu Hause sein, dass er in seiner eigenen Sprache Möglichkeiten zu entdecken fähig ist, adäquat das zu artikulieren, was in der anderen Sprache ausgedrückt worden ist. Beim Übersetzen geht es also gleichzeitig um das Verständnis des Anderen in seiner zunächst fremden Eigenheit und um die Öffnung des Eigenen, um für den Anderen darin Platz zu machen. In diesem Zusammenspiel von Verständnis und Öffnung erweist sich die Übersetzung als eine Weise von Anerkennung. Anerkennung kann es nicht geben, ohne dass sich der Anerkennende durch sie verändert. Diesen Sachverhalt formuliert Ricœur auch so: "Es geht darum, beim anderen zu wohnen, um ihn dann als eingeladenen Gast mit nach Hause zu nehmen." (110)
Die Übersetzung ist aber ein einseitiger Vorgang. Ihr Gelingen ist einzig Sache des Übersetzers. Ricœurs metaphorische Bezeichnung der Übersetzung als "sprachliche Gastfreundschaft" (111) weist jedoch über diesen Prozess hinaus auf eine tiefere Art von Anerkennung hin. Die Gastfreundschaft ist nämlich ein wechselseitiges Verhältnis, bei dem nicht bloß der Gastgeber den Gast aufnimmt, sondern der Gast wiederum eine vom Gastgeber ausgesprochene Einladung zur Freundschaft annimmt. Durch ihre gegenseitige Anerkennung als Freunde verändern sich damit beide. Analog dazu muss aus dem einseitigen Vorgang der Übersetzung ein wechselseitiger Prozess des Austauschs werden.
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Gedächtnisaustausch
Narrative Identität und Anerkennung
Das zweite Modell, der "Gedächtnisaustausch", baut auf Ricœurs Konzeption der narrativen Identität auf, die er in Soi-même comme un autre (1990; dt.: "Das Selbst als ein Anderer") entwickelt. Hier formuliert Ricœur mit literaturwissenschaftlichen Mitteln das Problem der Identität neu, wofür er auf das Modell der Figur in einer fiktionalen Erzählung zurückgreift. Eine solche Figur wird innerhalb eines komplexen Handlungsgefüges als Schnittpunkt unterschiedlicher Rollen konstruiert. Die Logik der "Fabelkomposition", die Ricœur in "Zeit und Erzählung" im Gespräch mit Aristoteles und der strukturalistischen Semiotik analysiert hat, ermöglicht es, Brüche und starke Kontingenzerfahrungen als konstitutiv für diese Konstruktion zu denken. Die Pluralität der narrativen Stimmen (Bachtin) sowie die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler sind zudem notwendige Mittel, um einerseits der polyphonen Struktur von Lebensläufen gerecht zu werden, und andererseits die Vorstellung eines uneingeschränkt seiner selbst mächtigen Subjekts als Illusion zu entlarven. Wir sind höchstens die "Mitverfasser" unseres Lebens; andere schreiben immer mit.
Durch ihre Offenheit für Umschreibung und Überarbeitung und durch ihre strukturelle Mehrstimmigkeit ist die narrative Identität fähig, die Erzählungen Anderer einzubeziehen. Denn grundsätzlich kann es von jedem Ereignis oder Vorgang mehrere unterschiedliche Erzählungen geben, die ihrer Verschiedenheit zum Trotz gleichberechtigt sind. Die Erzählungen von Anderen wandeln so die eigene Lebenserzählung um. Wie Ricœur selbst betont, darf dieser Prozess der Einbeziehung und Umwandlung als erzähltheoretische Form der Anerkennung gelten (113).
Für Ricœur dient dieses literaturwissenschaftliche Modell der narrativen Identität nicht bloß dazu, die klassischen Probleme der personalen Identität auf einer neuen Basis zu verhandeln. In Zeit und Erzählung 3 betont er, dass das Modell der narrativen Identität auch auf die Identität von Gruppen angewandt werden kann. Dabei sind Gruppen kollektive Akteure, mit all jenen Zügen, die einzelne Figuren fiktionaler Erzählungen aufweisen. Kollektive Identitäten als narrativ verfasste Identitäten zu verstehen heißt, sie immer neu zu verstehen als Ergebnisse von Verhandlungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppen, aber auch mit anderen Gruppen, sowie als Produkte von Anpassungen an sich verändernden Umweltbedingungen und Kommunikationssituationen (Welzer). Auch auf dieser Ebene haben wir es mit Formen der Anerkennung zu tun.
Gedächnisaustausch
Das Problem der personalen Identität ist seit John Locke eng mit dem Problem des Gedächtnisses verbunden. Auch Ricœurs Überlegungen zum Gedächtnis – ein Hauptthema seines Spätwerkes – schließen an seine Theorie der narrativen Identität an und ergänzen sie. Dank ihrer offenen Struktur erweisen sie sich als anschlussfähig an neue Entwicklungen in der Gedächtnisforschung. Von diesen wären neben den psychologischen Arbeiten zur Kreativität sowie zur meist unterschätzten Fehlbarkeit des Gedächtnisses insbesondere die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann zum kulturellen Gedächtnis hervorzuheben.
Das Gedächtnis selbst ist narrativ verfasst. Die Erzählung, in der sich die personale Identität konstituiert, strukturiert das individuelle Gedächtnis. Die Erinnerungen des Selbst werden dabei nicht nur mit den Erinnerungen der anderen verwoben (Halbwachs), all diese Erinnerungen, die eigenen wie die der Anderen, werden in einen Rahmen eingeschrieben. Dieser Rahmen verbindet die universellen Strukturen der Erzählung mit der narrativ konstituierten Kalenderzeit, die immer sozial konstruiert ist (vgl. Zeit und Erzählung 3). Indem das individuelle Gedächtnis narrativ verfasst ist, ist es also immer auch eine Synthese von individuellen, kollektiven und kulturellen Dimensionen. Es besitzt eine unhintergehbar soziale Dimension.
Diese erzähltheoretische Verfasstheit kennzeichnet auch das kulturelle Gedächtnis, das mithilfe von Masternarrativen über größere Zeiträume hinweg die Identität einer Gruppe stabilisieren und tradieren soll. Im kulturellen Gedächtnis wird die Beziehung der Gruppe zu sich selbst und zu ihrer Außenwelt festgelegt. Meist ist die sozial ritualisierte Praxis der kollektiven Erinnerung um die Zelebration großer Siege und Helden der Vergangenheit organisiert. Zurückliegende Konflikte und Feindschaften werden so durch die gesellschaftliche Praxis erinnert und als Gruppengedächtnis institutionalisiert. Eine solche Praxis der Siegergeschichte blendet das Gedächtnis von Opfern und Besiegten aus. Dadurch perpetuiert sie Konflikte und schreibt Feindschaften fest.
Aber auch die kollektive Identität ist umformbar. Indem die Perspektiven der Opfer und der Besiegten einbezogen wird, kann eine in der kulturellen Erinnerungspraxis festgeschriebene Siegergeschichte anders, also neu erzählt werden. Das Gedächtnis der Opfer wird Teil des Gedächtnisses der Sieger, womit dann auch die Besiegten am Gedächtnis der Seiger Anteil haben. Diese wechselseitige Perspektivübernahme macht den Gedächtnisaustausch aus. Versöhnung ist nur dann möglich, wenn im eigenen kulturellen Gedächtnis Platz für Andere gemacht wird, damit auch ihre Erzählungen zur Geltung kommen können. Damit wird ihnen "narrative Gastfreundschaft" (114) gewährt. Ein Austausch zwischen kulturellen Erinnerungen vermag es nicht bloss Konfliktlinien und Feindschaften aufzubrechen. Er wandelt nicht eingelöste Versprechungen und betrogene Erwartungen der Vergangenheit in neue Handlungsmöglichkeiten um, die der Hoffnung konkrete Gestalt verleihen. Das ist ein Grundzug von Versöhnung: wechselseitige Anerkennung ermöglicht den Entwurf einer gemeinsamen Zukunft, in der enttäuschte Hoffnungen doch noch erfüllt werden können.
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Vergebung
Es gibt Fälle, in denen der Gedächtnisaustausch als Grundlage für Versöhnung nicht ausreicht, weil in der Vergangenheit besonders großes Leid und Unrecht zugefügt wurde. Man denke an die Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes im Dritten Reich begangen wurden, an die zahlreichen Opfer des Stalinismus und des Maoismus von Polen bis nach Kambodscha, oder an die vielen Gewalttaten des Kolonialismus und an das Leid, das die Praxis der Sklaverei über Jahrhunderte hinweg verursachte. In solchen Fällen reicht die bloße Einbeziehung der Opferperspektive nicht aus.
Hier kommt das Problem der Vergebung ins Spiel. Ricœur weiß um die Schwierigkeiten, die mit diesem Thema zusammenhängen und behandelt es entsprechend mit der gebotenen Vorsicht. Er betont sofort, dass Vergebung gerade nicht Vergessen bedeutet, sondern ein Gedenken an Leid und Unrecht verlangt. Nur Erinnertes kann vergeben werden. Der Gedächtnisaustausch und die Einbeziehung der Opfererinnerungen in das kulturelle Gedächtnis von Tätern sind insofern unbedingte Voraussetzungen dafür, dass überhaupt von Vergebung gesprochen werden kann. Sie ist nicht mit Amnestie zu verwechseln, sondern deren genaues Gegenteil. Denn Amnestie ist rechtlich verfügtes Vergessen.
Ein zweiter Punkt ist Ricœur wichtig: Von Seiten der Täter kann nur um Vergebung gebeten werden. Im Hinblick auf die Opfer unsäglicher Verbrechen kann keine Rede von einer moralischen oder juristischen Pflicht zur Vergebung sein. Es gibt keinen Anspruch auf Vergebung. Ricœur hat immer betont, dass die Vergebung zur Ökonomie der Gabe gehört, die sich grundsätzlich der Logik der Reziprozität entzieht. Mehrfach hat Ricœur in diesem Zusammenhang auf den Kniefall von Willy Brandt vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos verwiesen. Diese spontane Geste erwartete kein Wort der Vergebung, keine Erwiderung der Opfer, an die sie sich richtete,. Sie war jenseits aller diplomatischen und politischen Usancen eine öffentliche Anerkennung der untilgbaren Verantwortung des deutschen Volks, die sich auf das unmissverständliche Bekenntnis zur Unentschuldbarkeit der in seinem Namen begangenen Verbrechen und des dadurch verursachten Leids beschränkte.
Um Vergebung bitten bedeutet, die Unverzeihlichkeit dessen anzuerkennen, wofür man Schuld trägt. Insofern ist die Bitte um Vergebung die tiefste Form, das unumkehrbare Leid der Opfer anzuerkennen, ohne auf Gewährung der Vergebung Anspruch erheben zu können. Aber schon durch die bloße Bitte um Vergebung wird ein neues Verhältnis gestiftet zwischen denen, die sie äußern, und denen, die ihre Adressaten sind. Mit ihrer Bitte erkennen die Täter ihre Schuld prinzipiell als unauslöschlich an, wodurch diese Schuld symbolisch in eine neue Form von Beziehung eingebracht werden kann. Sie eröffnen auch für die Opfer, die sie um Vergebung bitten, die Möglichkeit, in eine Ökonomie der Gabe, in der die Anerkennung nicht mehr der Logik der Verteilungsgerechtigkeit und des do ut des gehorcht.
Wie die Liebe, mit der sie eng verbunden ist, kann die Ökonomie der Gabe nur poetisch artikuliert werden (vgl. 117). Diese poetische Dimension umfasst nicht bloß die literarische Form, in der angemessen von Vergebung gesprochen werden kann – religiös drückte sich das Schuldbekenntnis und die Bitte um Vergebung sich traditionell in Klageliedern und in Bußpsalmen aus, die Antwort auf Vergebung erfolgte in Dankeshymnen –, sie schließt auch den kreativen Aspekt der Vergebung ein. So, wie für die Bitte um Vergebung neue Formen des Handelns erfordert, damit ihre Artikulation authentisch ist (was der Kniefall von Willy Brandt in geradezu klassischer Weise illustriert), so eröffnet diese Bitte auch für ihre Adressaten neue Möglichkeiten des Handelns jenseits der rechtlich und moralisch geregelten "Sphären der Gerechtigkeit" (Michael Walzer). Vergebung lässt sich nicht verrechnen; sie verdankt sich einer radikalen Um- und Neuorientierung des Handelns und übersteigt deswegen den Rahmen moralisch und rechtlich normierten Handelns. Insofern soll Versöhnung auf Vergebung hoffen, ohne darauf bauen zu können.
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Religion und Versöhnung
Die lyrischen Sprachformen, welche allein der Vergebung gerecht werden, und die Kreativität des Handelns, die sie freisetzt, verweisen darauf, dass die Ökonomie der Gabe die Vergebung bestimmt. Ricœur sieht in einer solchen Ökonomie, die mit der Logik von Äquivalenz und Verteilungsgerechtigkeit bricht, eine Grunddimension von Religion. Gerade weil die Vergebung der Ökonomie der Gabe folgt, kann sie in der religiösen Sprache eine ihr so angemessene Artikulation finden. Einmal mehr ist die die spontane Geste Willy Brandts anschaulich: Der Kniefall ist der politischen und diplomatischen Welt seiner Zeit fremd, nicht aber der Sprache religiöser Gebärden. Offenkundig stellt die religiöse Symbolsprache der Artikulation von tiefem Respekt und aufrichtigem Schuldbewusstsein passende Mittel bereit.
Die Rolle der Religion für die Versöhnung beschränkt sich aber nicht darauf, der Vergebung mit ihren Gesten Ausdrucksformen und mit der Ökonomie der Gabe einen Deutungsrahmen zu leihen. Ihr kommt vielfach auch für den Gedächtnisaustausch und dadurch der Einbeziehung von Opfergedächtnissen eine grundlegende Funktion zu. Im Allgemeinen gilt, dass die Religion auf individueller wie auf kollektiver Ebene grundlegend für die Konstitution von Gedächtnis ist. Man hat sogar die anthropologische Funktion der Religion gedächtnistheoretisch bestimmt.[1] Der Gedächtnisaustausch findet in der religiösen Praxis einen möglichen, wenn nicht den institutionellen Ort, an dem die konstitutive Bedeutung des Gedächtnisses für das Menschsein in besonderer Weise bedacht wird.
Auch in der Übersetzung lässt sich eine tiefere religiöse Dimension aufmachen. Die Probleme der Übersetzung heiliger Schriften und der religiösen Legitimität und Verbindlichkeit solcher Übersetzungen stellen allen so genannten Buchreligionen vor unausweichliche Fragen. Die Übersetzung heiliger Texte selbst wurde des Öfteren als eine Form von Inspiration, letztendlich als ein göttlicher Akt angesehen – davon geben die Legende von der Übersetzung der hebräischen Bibel durch 72 Gelehrte in 72 Tagen ins Griechische (vgl. den Aristeasbrief), aber auch der quasi kanonische Status der lateinischen Übersetzung der Bibel durch Hieronymus ein beredtes Zeugnis. Das hieße, dass Ricœurs "sprachliche Gastfreundschaft" sowie das "Prinzip der universellen Übersetzbarkeit" (110) als deren Möglichkeitsbedingung einer theologischen Lesart zugänglich sind: Sie können als eine Gabe gedeutet werden, die unter dem Zeichen der Transzendenz das Übel der Sprachenverwirrung von Babel zur Voraussetzung für die wechselseitige Anerkennung von Sprachkulturen umwandelt. Die Übersetzung gilt dann als Modell für einen glücklichen Pluralismus, in dem Differenzen anerkannt werden, weil sie grundsätzlich sprachlich vermittelbar sind.
Damit sei auf die Rolle und die Verantwortung der religiösen Institutionen in den Versöhnungsprozessen hingewiesen. Als institutionalisierte Träger eines zunächst kultisch verfassten Gedächtnisses kommt ihnen eine besondere Verantwortung zu, wenn es darum geht, die Erinnerungen der Opfer und an die Opfer immer wieder zum Leben zu erwecken. Im Gedenken an den Gekreuzigten findet die christliche Gemeinschaft die Ressourcen dafür, in ihrer rituellen Praxis das Opfergedächtnis lebendig zu halten. Das kreuzestheologisch vertiefte Gedenken der Opfer macht aus dem kultischen Gedächtnis des Christentums eine "gefährliche Erinnerung" (Johann Baptist Metz), deren Gefährlichkeit aber gerade dazu beitragen kann, Spielräume für neue Denk- und Handlungsweisen zu eröffnen, in denen Versöhnung möglich wird. Diesen Punkt hat Ricœur in dem posthum veröffentlichten Vortrag Die politische Machtpdf, 722 kb · fr hervorgehoben. Was er sagt, gilt mutatis mutandis auch für andere Religionen und religiöse Gemeinschaften. Durch ihre gedächtnispraktische Arbeit ebnen Religionen darüber hinaus Wege für Vergebung, indem sie vergangenes Unrecht und Leid nicht vergessen oder verdrängen, sondern immer wieder kultisch aktivieren, ohne dabei zu Rache und Vergeltung aufzurufen
[1] Vgl. Danièle Hervieu-Léger, La religion pour mémoire, Paris, Cerf, 1993 ; Philippe Borgeaud (Hg.), La mémoire des religions, Genève, Labor et Fides, 1988. Für einen gedächtnistheoretischen Zugang zum Phänomen Religion spielen die Arbeiten von Maurice Halbwachs eine fundamentale Rolle.
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Anthropologie der Versöhnung
Folgt man Ricœurs Religionsphilosophie, hängt das mit der Funktion der Religion zusammen. In der Religion geht es nämlich um die Wiederherstellung der Grundfähigkeiten, die für das Menschsein konstitutiv sind. Diese Grundfähigkeiten bilden das Zentrum der Anthropologie, die Ricœur in den Gifford Lectures und dann in Soi-même comme un autre entfaltet: sprechen, handeln, sich eine Handlung zuschreiben, sich erzählen, sich ethisch bewerten; später fügt Ricœur der Liste der Grundfähigkeiten noch die Fähigkeit sich zu erinnern hinzu. Ricœurs Anthropologie ist eine Anthropologie des handelnden und leidenden Menschen, aber auch und zugleich eine Anthropologie des fehlbaren Menschen. Denn diese "Kapabilitäten", wie Ricœur sich auch gern ausdrückt (das Wort ist so ungewöhnlich auf Französisch wie auf Deutsch), bergen immer auch das Risiko der Verschuldung und der Schuldverstrickung.
Fähigkeiten und Fehlbarkeit bilden die beiden Seiten von Ricœurs Anthropologie. Denn das Handeln ist durch eine Grundpolarität strukturiert, in welcher der jeweils handelnde Mensch einem leidenden Menschen entgegengesetzt ist, an dem er die Handlung vollzieht. In dieser für Handlungssituationen konstitutiven Polarität liegt der Keim aller Formen von Missbrauch und Gewalt. Die Fehlbarkeit des Menschen birgt immer die Gefahr, dass er seine Grundfähigkeiten einsetzt, um anderen Menschen Unrecht und Leid anzutun. Das gilt auch für das Gedächtnis und für die Übersetzung: Das Gedächtnis kann Gegenstand von Missbrauch, die Übersetzung zur entstellenden Herabsetzung werden.
Hier findet die Religion ihre doppelte Aufgabe. Einerseits kann und soll sie die menschliche Fehlbarkeit und das Schuldigwerden als konstitutive Fragilität des Menschseins deuten, aus der sich die schuldhafte Unfähigkeit des Menschen ergibt, das Gute von sich aus zu tun, zu dem er im Prinzip fähig wäre. Andererseits artikuliert sie die Hoffnung auf eine Befreiung, welche die Fähigkeiten des Menschen, das Gute zu tun, wiederherstellt. Um dasselbe Verhältnis in der hermeneutischen Begrifflichkeit von Temps et récit zu formulieren: Die Religion ermöglicht eine neue Konfiguration des Menschseins, durch die der Mensch sich selbst und sein Handeln neu verstehen und ausrichten, d.h. refigurieren kann. Das ist mit dem Stichwort der Wiederherstellung gemeint. Die Ökonomie der Gabe ist deren grundlegende Gestalt.
Dieser Aspekt ist von besonderer Bedeutung für die Versöhnungsforschung. Offenkundig hat die Frage nach der Fehlbarkeit und dem Schuldigwerden des Menschen mit den Gründen zu tun, die Versöhnung erforderlich machen. Darüber hinaus ist die Einsicht, dass durch eine religiös informierte Neubeschreibung des Menschen auch neue Möglichkeiten des Handelns erschlossen werden, von grundlegender Bedeutung für Prozesse der Versöhnung: Diese gelingen nämlich nur, wenn sie allen Beteiligten Handlungsmöglichkeiten eröffnen, die einen neuen Umgang mit der Vergangenheit aufschließen. Versöhnung ließe sich folglich näher bestimmen als Wiederherstellung der Fähigkeiten des Menschen, das Gute zu tun. Sie wird nur durch die Befreiung aus den Zwängen und Traumata der Vergangenheit möglich. Insofern bietet gerade Ricœurs biblisch-hermeneutisch fundierte Religionsphilosophie einen hervorragenden Bezugsrahmen dafür, die Rolle der religiösen Deutungsressourcen in Versöhnungsprozessen zu verstehen, aber auch zu mobilisieren.