Schwarz-Weiß-Photographie von Paul Ricœur in 1999

Biblische Hermeneutik

Ricœur über Grenzerfahrungen und Grenzausdrücke
Schwarz-Weiß-Photographie von Paul Ricœur in 1999
Image: Artedia/Leemage

Von der Symbolique du mal (1960; dt: Die Symbolik des Bösen) bis zu Penser la Bible (1998; ins Deutsche nicht übersetzt) widmete Ricœur der biblischen Hermeneutik eine Reihe wichtiger Arbeiten. Nach seiner Auffassung stellt sie einen Sonderfall seiner allgemeinen Texthermeneutik dar. Deren Grundlegungsfunktion für Ricœurs biblische Hermeneutik zeigt sich insbesondere daran, dass die Grundkategorien seiner biblischen Hermeneutik ausnahmslos seiner Theorie des literarischen Textes entliehen sind. Obgleich seine Arbeiten zur biblischen Hermeneutik von der Theologie intensiv rezipiert worden sind, hat Ricœur nie eine "theologische Hermeneutik" entworfen. Das bedeutet aber keineswegs, dass seine biblische Hermeneutik lediglich die Kategorien seiner Texthermeneutik zur besonderen Anwendung bringt. Vielmehr führt sie diese an ihre Grenzen und lässt so die spezifischen Probleme einer Hermeneutik der religiösen Sprache hervorscheinen – doch dabei bleibt sie immer eine philosophische Hermeneutik.

Zu diesem Thema:
Jean-Marc Tétaz: Vérité et convocation. L'herméneutique biblique comme problème philosophique (2006)pdf, 104 kb · fr

  • Grenzerfahrungen und Grenzausdrücke

    Ricœurs Auffassung der religiösen Sprache gründet in einer Theorie der religiösen Erfahrung als Grenzerfahrung, deren Begriff Ricœur von Jaspers übernimmt. Grenzerfahrungen sind Erfahrungen, welche die kohärente und stabile Identität des Individuums in Frage stellen. Sie machen die Refiguration des Selbst- und Weltbildes unausweichlich und eröffnen so die Möglichkeit einer grundlegenden Erneuerung des Selbstverständnisses. Insofern überschneiden sich die Phänomene, die Ricœur als Grenzerfahrungen beschreibt, mit den Erlebnissen, die von Joas als Erfahrungen von Selbsttranszendenz behandelt werden. Solche Erfahrungen verlangen, mit Hilfe symbolischer Mittel artikuliert zu werden. Solche symbolischen Mittel nennt Ricœur "Grenzausdrücke"; mit ihnen artikulieren religiöse Sprachen Grenzerfahrungen. Das macht die Spezifizität von religiösen Sprachen aus.

    Diese Grenzausdrücke sind ein Sonderfall der Metapher. In den biblischen Traditionen finden sie ihre paradigmatische Form im Gleichnis, das poetologisch als "das Zusammentreffen einer narrativen Form und eines metaphorischen Prozesses" definiert werden kann[1]. Die Theorie der religiösen Sprache gehört also in den Rahmen einer durch die moderne Semiotik informierten Metaphertheorie. Weil die religiöse Erfahrung verwirrend und unerhört ist, stellen religiöse Metaphern ausgezeichnete semantische Innovationen dar. Denn: Um das Unerhörte auszudrücken, kann man nicht auf die lexikalischen Ressourcen traditioneller Metaphern zurückgreifen, sondern muss neue erfinden.

     

    [1] Den Begriff "metaphorischer Prozess" entlehnt Ricœur der Poetologie von Roman Jakobson.

  • Die religiöse Sprache als metaphorische Sprache – die Funktion der Theologie

    Die eigentümliche Funktion religiöser Sprache besteht also darin, eine neue Welt (im Neuen Testament: "das Reich Gottes") zu entwerfen, deren Neuheit den Leser desorientiert und, indem sie ihn einlädt, seine eigene Welt mit dem Impuls dieser durch den Text konfigurierten Welt neu zu gestalten, zugleich neu orientiert. Hier bietet sich ein Vergleich mit der von Blumenberg inspirierten Metaphorologie an. Für deren Vertreter (Stoellger, Haverkamp, usw.) stellen religiöse Metaphern Mittel einer Hermeneutik dar, welche Lebenswelt als die immer schon vorausgesetzten, aber nie direkt thematisierbaren Strukturen der menschlichen Existenz entwickelt. Für Ricœur hingegen haben religiöse Metaphern die Funktion, radikal neue Weisen, sich in der Welt zu verstehen und sein eigenes Handeln zu orientieren, zur Artikulation zu bringen. Diese Neuorientierung des Handelns hat Ricœur am Beispiel der Dialektik von Gerechtigkeit und Liebe, sowie der Logik der Gabe und der Vergebung entfaltet.

    Die biblischen Schriften bilden in ihrer Gesamtheit ein "metaphorisches Netz", das seinen  Fluchtpunkt im Grenzausdruck "Gott" findet. Aus einer hermeneutischen Perspektive ist die Bedeutung des Wortes "Gott" nur durch die Deutung der verschiedenen metaphorischen Prozesse, in die er eingewoben ist, zu bestimmen. Die biblische Rede von Gott ist insofern eine metaphorische Rede, die Ricœur von der begrifflichen und der spekulativen Rede abgrenzt. Als "gemischte Rede" (discours mixte) operiert die Theologie "an der Schnittstelle von zwei Bewegungen, dem Metaphorischen und dem Spekulativen". Sie hat darauf zu achten, sowohl "die Klarheit des Begriffs" als auch die "Dynamik der Bedeutung" zu wahren und dabei "die Erfahrung, die durch den biblischen Text artikuliert wird, […] der menschlichen Erfahrung im großen Maßstab" zuzuordnen. Eine begriffliche Rekonstruktion der metaphorischen Bedeutung von "Gott" ist die eigentliche Aufgabe der Theologie. Ricœur hat dieser Problematik mehrere Essais gewidmet, insbesondere im Band Penser la Bible (1998)

    In religiösen Metaphern, die nie restlos in eine spekulative Begrifflichkeit überführt werden können, artikuliert sich eine Hoffnung auf die Wiederherstellung der Fähigkeiten des fehlbaren Menschen durch eine radikale Erneuerung seines Selbst- und Weltverständnisses. Damit entwirft Ricœur eine Religionsphilosophie, die zwischen der hegelianischen Kritik der Vorstellung als Form der Religion und der kantischen Auffassung von Religion als Wiederherstellung des guten Willens vermittelt. Ricœurs hermeneutische Konzeption von Theologie eröffnet eine Alternative zu den klassischen Programmen der hermeneutischen Theologie (Bultmann, Ebeling, Jüngel).