Seit seiner Berufung an die Sorbonne als Nachfolger von Jean Hyppolite hat Paul Ricœur für ein gutes Jahrzehnt unentgeltlich auch das Amt des Philosophieprofessors an der Fakultät für protestantsiche Theologie (Faculté de théologie protestante, heute Institut protestant de théologie [IPT]) am Boulevard Arago in Paris bekleidet. Ab 1968 hat er auch an der Faculté de Théologie catholique (die "Catho", wie man sie bis heute nennt) regelmäßig Vorlesungen gehalten. Über das genaue Unterrichtsprogramm von Ricœur an der Faculté de théologie protestante ist infolge eines Archivverlusts (Einbruch) am IPT wenig bekannt. Umso wertvoller sind die Mitschriften von Jean-Pierre Thévenaz (Yvorne, damals Lausanne), der die Lehrveranstaltungen von Ricœur 1966-1968 besuchte. Dieses bis jetzt unveröffentlichte Material wird hier zum ersten Mal als Faksimile der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die vier ersten Lehrveranstaltungen dokumentieren die intensive Auseinandersetzung Paul Ricœurs mit der sogenannten "Hermeneutischen Theologie", die gegen Ende der 1960er Jahre die deutschsprachige evangelische Theologie stark prägte (Ernst Fuchs, Gerhard Ebeling, Eberhard Jüngel). Siehe dazu auch Tétaz/Leiner: "Für eine neue hermeneutische Theologie" (2021)pdf, 4 mb · de.
Dazu gehören folgende Mitschriften:
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1. SS 1966: Vorlesung zu Ebeling
Inhaltlich überschneidet sich die Vorlesung mit den beiden von Ricœur in den Druck gegebenen Vorträge «Ebeling», Foi et éducation 37 (1967), p. 36-53 (II.A.218) und «L’événement de parole chez Ebeling», Cahiers du Centre protestant de l’Ouest 9 (1968), p. 23-31 (II.A.240). Der erste Text erschien in deutscher Übersetzung unter dem Titel: "Gerhard Ebeling, Rückwendung zur Reformation und Wortgeschehen", Hermeneutische Blätter. Sonderheft 2006, S. 75-94 (II.C.57).
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2. März 1967: "Entmythologisierung und Hermeneutik" («Démythologisation et hermeneutique»)
Am 13. März 1967 hielt Paul Ricœur am Centre universitaire européen in Nancy (Frankreich) eine Doppelvorlesung zum Thema "Entmythologisieung und Hermeneutik" («Démythologisation et herméneutique»). Sie ist Teil der Auseinandersetzung Ricœurs mit der Theologie von Rudolf Bultmann im Allgemeinen und mit seinem Programm der Entmythologisierung insbesondere, das in diesen Jahren in Frankreich Anlass zu kontroversen Diskussionen gab und vor allem von den liberalen Theologen intensiv rezipiert wurde.
In den Jahren 1966-67 widmete Ricœur Bultmann mehrere Vorträge und Texte: «R. Bultmann», in: Foi – Éducation 37 (1967), S. 17-35 (II.A.217); «Mythe et proclamation chez Rudolf Bultmann», in: Les Cahiers du Centre protestant de l’Ouest 8 (1967), S. 21-33 (II.A.221), «Préface» in: Rudolf Bultmann, Jésus. Mythologie et démythologisation, Paris, Seuil, 1968, S. 9-28 (II.A.231); «Bultmann: une théologie sans mythologie. Existentiel – Existential», in: Cahiers d’Orgemont 72 (1969), S. 21-37. Von diesen Texten ist nur das Vorwort (Préface) zum Jesus-Buch ins Deutsche übertragen worden, dies aber gleich zweimal: "Die Hermeneutik Rudolf Bultmanns" (Evangelische Theologie 33 [1973], S. 457-476; II.C.13), sowie "Vorwort zur französischen Ausgabe von Rudolf Bultmanns Jesus (1926) und Jesus Christus und die Mythologie" (1951), in: Paul Ricœur, Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretanionen I, München, Kösel, 1973 (I.C.5).
Die Doppelvorlesung von Nancy ist der ausführlichste Text von Ricœur zu Bultmann. Er weist erhebliche Überschneidungen mit dem Vorwort zur französischen Übersetzung von Jesus und Jesus Christus und die Mythologie auf (II.A.231; vgl. II.C.13 sowie I.C.5) und diente Ricœur vermutlich als Vorfassung für diesen späteren Text.
Der Text der Doppelvorlesung ist in der Form eines Polycopiés überliefert, welcher nach einer Aufnahme der Vorträge entstanden ist, wie Rechtschreibfehler bei Eigennamen sowie klassische Hörfehler nahelegen. Er wurde von Jean-Marc Tétaz als Anhang seiner Neuübersetzung von Bultmanns programmatischem Vortrag zur Entmythologisierung (1942) ediert: Rudolf Bultmann, Nouveau Testament et Mythologie, suivi de: Paul Ricœur, Démythologisation et herméneutique, Genève, Labor et Fides, 2013.
Der Text dieser Edition wird hier online zur Verfügung gestellt.pdf, 31 mb · fr
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3. SS 1967: Seminar: "Heidegger II und die Theologie" («Heidegger II et la théologie»)
Nach einer kurzen Einleitung zu Sein und Zeit (2r-4r) werden folgende Themen behandelt:
- Die Wahrheit (5r-15r): Sein und Zeit, § 44 (S. 5r – 7v); Das Wesen der Wahrheit (7v-11v); Der Brief über den Humanismus (11v-15r.).
- Die Un-Wahrheit (15v-18r): Sein und Zeit, S. 166-180 (15v-16v); Was ist Metaphysik? (16v-18).
- Die Sprache (19r- ): Sein und Zeit (19r-20v); Unterwegs zur Sprache (21r-29v); auf den Seiten 27v-29v konfrontiert Ricœur Heideggers Auffassung mit der Sprachauffassung der Sprachwissenschaft, des Strukturalismus, der Philosophy of Ordinary Language und der Philosophie Humboldts; er schließt mit einer kurzen Diskussion von Heideggers Verhältnis zur Theologie.
- Die Metaphysik (30r-34v): Nietzsches Wort, "Gott ist tot" (Holzwege; 30r-31v), "Wer ist Nietzsches Zarathustra?" (Vorträge und Aufsätze; 31v-34v).
- Dichtung (35r-38v): "Wie wenn am Feiertage…"(35v-38v).
- Die Ontotheologie (39v-45): "Die ontotheologische Verfassung der Metaphysik" (Identität und Differenz; 39v-42r; Seminar mit den Alten Marburgern (ehemaligen Schülern von Rudolf Bultmann; 1959). Ricœur hatte an diesem Seminar mit ehemaligen Schülern von Bultmann und Heidegger teilgenommen (Bultmann selbst hatte wegen einer Grippeerkrankung absagen müssen). Ricœur stellte den Teilnehmern seines Seminars das Protokoll dieser Veranstaltung als Polycopié zur Verfügung . Dieses bis jetzt unveröffentlichte Protokoll wird in Kürze hier veröffentlicht.
Zwischen den S. 4 und S. 5 befinden sich Seiten aus einer anderen Hand, die eine Teilmitschrift einer Lehrveranstaltung Ricœur zu Heidegger im Jahr 1966 dokumentieren.
Insgesamt bringt diese ausführliche und gut lesbare Mitschrift wichtige Informationen über Aspekte der Heideggerrezeption von Ricœur, insbesondere in theologischer Hinsicht.
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4. SS 1968: Vorlesung "Die theologischen Auswirkungen der aktuellen Forschungen zur Sprache" («Les incidences théologiques des recherches actuelles concernant le langage»)
1967-68 hielt Ricœur eine Vorlesung mit dem Titel «Les incidences théologiques des recherches actuelles concernant le langage», d.h.: "Die theologischen Auswirkungen der aktuellen Forschungen zur Sprache". Für diese Vorlesung verfügen wir glücklicherweise über zwei Quellen. Einerseits ein «Polycopié de cours», der von dem «Institut d'études œcuméniques» der Faculté de théologie de l'Institut catholique de Paris 1969 veröffentlicht worden ist (und zweimal nachgedruckt wurde; sie trägt die Signatur II.A.252 bei Vansina), andererseits über die Notizen von Jean-Pierre Thevenaz, deren erste Hälfte leider verschollen ist. Die erste Hälfte der Vorlesung wurde an der Faculté protestante de théologie gehalten, die zweite an der Faculté catholique. Sowohl das Polycopié wie auch die Notizen von Thévenaz brechen jäh mitten im Kapitel IV ("Prophetischer Diskurs und narrativer Diskurs"). Die Vorlesung wurde vermutlich an dieser Stelle durch die Ereignisse vom Mai 1968 unterbrochen. Dadurch wurde der Bogen, der vom Problem des Mythos und seiner existentiellen Deutung über die Theorie der Erzählung, des prophetischen Diskurses und des Gleichnisses zur Theologie des Wort Gottes (womit die Vorlesung angefangen hatte) hätte führen sollen, von Ricœur nicht bis zum Ende gespannt. Leider scheint sich im Archiv auch kein Manuskript dieser Vorlesung erhalten zu haben. Die Einleitung der Vorlesung ist fast Wort für Wort identisch mit dem Aufsatz «Contribution d’une réflexion sur le langage à une théologie de la parole» (Revue de théologie et de philosophie 18 (1968), p. 333-345 (II A 237); der Aufsatz erschien auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Sprache und Theologie des Wortes", in Exegese im Methiodenkonflikt. Zwischen Geschichte und Struktur, München, Kösel, 1073, p. 201-221.
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5. WS 1967-1968: Seminar "Die Hoffnung" («L’espérance»)
Das Seminar behandelt zuerst Kants Die Religion in den Grenzen der blossen Vernunft (2r-17r), dann Hegels Phänomenologie des Geistes, Kap. VII. Der erste Teil überschneidet sich stark mit dem Aufsatz «La liberté selon l’espérance» (Le conflit des interprétations. Essais d’herméneutique, 1969). Dieser Aufsatz erschien zuerst 1968 unter dem Titel «Approche philosophique du concept de liberté religieuse», Archivio de Filosofia 38 (1968), S. 235-252. Der Text ist zweimal ins Deutsche übersetzt worden: "Philosophische Annäherung an den Begriff der religiösen Freiheit", in: Religion und Freiheit. Zur Hermeneutik der religiösen Freiheit, Rom, 1968, S. 51-63; "Die Freiheit im Lichte der Hoffnung", in: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München, Kösel, 1973.